IQNA

Scheich Qaraati: Offener Brief über die Bedeutung des Korans im Monat Ramadan

9:34 - May 07, 2019
Nachrichten-ID: 3001187
Der Autor Hudschat-ul-Islam Mohsen Qaraati ist ein bedeutender Koranlehrer im Iran und bei vielen wegen seiner Fernsehsendung, bei der er den Koran interpretiert, bekannt und genießt große Beliebtheit im Volk und bei den Großgelehrten. Er hat sein ganzes Leben der Koraninterpretation gewidmet und dabei ein eigenes Koraninterpretationswerk veröffentlicht. Seinen offenen Brief an die Freitagsimame des Landes anlässlich des Monats Ramadan 2019 hat die Webseite "Offenkundiges.de" sinngemäß aus dem persischen Original ins Deutsche übertragen. Sein Appell betrifft auch die Gelehrten, Redner und die Allgemeinheit der Muslime in Deutschland.

Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Begnadenden.

Aller Dank gebührt dem Herrn der Welten und der Friede und Segen seien mit Muhammad und der Familie Muhammads.

Salamun alaikum,

die hohe Stellung des Monat Ramadans ist im Koran und nicht im Fasten begründet. Im Koran heißt es: „Der Monat Ramadan ist es, in dem der Koran als Rechtleitung für die Menschen herabgesandt worden ist (…)“ (2:185)

In Zeiten des Stillstandes müssen wir den Monat Ramadan dazu nutzen, wieder Aktivität in unser Leben zu bringen. Diese Aktivität wird durch den heiligen Koran vorangebracht und dabei müssen die Lichter der Koraninterpretationen überall leuchten, um alle zu erreichen.

Uns wurde empfohlen, bei Zwietracht [fitna] und Schwierigkeiten Zuflucht beim Koran zu nehmen: „Sucht bei Auftreten von schrecklicher Zwietracht Zuflucht beim Koran, denn er ist sowohl eine Ermahnung, eine Heilung, ein Licht als auch eine Gnade.“ (Al-Kafi, B. 2, S. 599)

Entgegen der Meinung, dass die Interpretation des Korans und das Nachdenken über diesen nur eine empfohlene Angelegenheit sei, scheint es eher so, als wenn die Koraninterpretation eine verpflichtende Tat ist. Dies wird vor allem durch folgenden Vers deutlich: „Wollen sie also nicht über den Koran nachdenken, oder ist es (so), dass ihre Herzen verschlossen sind?“ (47:24)

Obwohl die Nacht der Bestimmung (Laylat-ul-Qadr) die Nacht der Offenbarung des Korans ist, hat der Koran in vielen Moscheen keine standfeste Anwendung. Die Stellungen des Bittgebets der Großen Rüstung (Dschauschan al-Kabir) und das Ritual, den Koran an den Kopf zu halten, oder das ledigliche Rezitieren an Eröffnungsfeiern im Monat Ramadan sowie zu Predigten und Trauerfeiern scheinen höher als die des Korans selbst zu sein.

Der Koran sagt, dass er Antworten auf unsere Fragen hat: „Zeichen für die Ratsuchenden“ (12:7), und dass er unsere seelischen Krankheiten heilt: „Und Wir senden vom Koran das hinab, was eine Heilung und Gnade für die Gläubigen ist.“ (17:82)

Obwohl der Prophet des Islams wusste, dass seine Ahlulbayt unterdrückt und seine Tochter sowie die Imame das Martyrium finden werden, wird er sich am Tage der Auferstehung darüber beschweren, dass der Koran vernachlässigt wurde, aber nicht über die Unterdrückung seiner Ahlulbayt: „Und der Gesandte sagte: ‚O mein Herr, mein Volk hat wirklich diesen Koran von sich gewiesen.‘“ (25:30)

Wenn wir einen Blick auf den letzten Vers werfen, können wir einige Lehren daraus ziehen:

Obwohl es sich bei dieser Beschwerde um die Zukunft, um den Tag der Auferstehung handelt, sagt der Koran: „Und der Gesandte sagte“. Das geschieht deshalb, weil dieser Zustand in der Zukunft sich auf die Vergangenheit bezieht.

Derjenige, der sich beschwert, ist kein geringerer als der Gesandte Gottes, eine Gnade für alle Welten.

Der Ort des Gerichts ist der Tag der Auferstehung bei Allah.

Dieser Vers bezieht sich auf diejenigen, die bewusst und wissend den Koran von sich gewiesen haben und nicht durch Nachlässigkeit und Unwissenheit.

Die Koranrezitation ist sehr wertvoll, aber wichtiger ist es, den Koran zu verstehen. Der Koran sagt selbst über die Angelegenheit des Verstehens: „O ihr, die ihr glaubt, nahet nicht dem Gebet, wenn ihr betrunken seid, bis ihr versteht, was ihr sprecht.“ (4:43)

Einige sind der Ansicht, dass nur die Ahlulbayt den Koran verstehen können, aber der Koran steht mit dieser Behauptung nicht im Einklang. Der Koran ruft sogar die Götzenanbeter dazu auf, ihn zu verstehen: „Und wenn einer der Götzendiener bei dir Schutz sucht, dann gewähre ihm Schutz, bis er Allahs Worte vernehmen kann“ (9:6), und hierbei versteht es sich von selbst, dass mit „vernehmen“ oder „hören“ das Verstehen gemeint ist.

Natürlich ist es aber so, dass die Ahlulbayt den Koran durch ihr weites Wissen kompetenter interpretieren und verstehen können als gewöhnliche Menschen. Nehmen wir als Beispiel einen Taucher. Ein professioneller Taucher kann aus dem Meer Schätze herausholen, die ein durchschnittlicher Taucher nicht herauszuholen vermag. Trotzdem kann man nicht behaupten, dass nur professionelle Taucher Nutzen vom Meer ziehen könnten. Jeder kann das Meer für sich nutzen, zum Beispiel, indem man einfach aufs Meer blickt, indem man darin schwimmt, Fische fängt usw.

Der Koran sagt, dass der Prophet mit den offenbarten Versen zu den Menschen sprechen muss: „(…) auf dass du den Menschen erklärest, was ihnen herabgesandt wurde.“ (16:44)
Worauf konzentrieren sich denn unsere heutigen Prediger? Bestehen nicht viele Predigten hauptsächlich aus bekannten Gedichten, teilweise erfundenen Geschichten und politischen Parolen? Wir sollten mit den Worten des Schöpfers, die die besten sind, unsere Vorträge füllen. Es ist dabei selbstverständlich, dass neben dem Koran die Überlieferungen der Ahlulbayt nicht außer Acht gelassen werden dürfen.

Der Koran weist auf das Gute und Schöne hin und sagt sich vom Schlechten los. Er ist eine Ermahnung. Er beinhaltet wahre und keine erfundenen Geschichten und ist beweisführend, historisch, und lässt Raum dafür, verschiedene Lehren aus ihm zu ziehen.

In der Sure Yusuf gibt es um die 1200 Punkte (Lehren im Tafsirwerk des Autors) zum Thema Ethik, Gesellschaft, Regierung, Management und Familie. Aber es ist auch wichtig, wie man den Koran für die Allgemeinheit interpretiert.

Was die Koraninterpretation betrifft, folgen einige Methoden, die sich als erfolgversprechend erwiesen haben:

Es müssen Verse aus dem Koran ausgesucht werden, die Gehör bei den Anwesenden finden. Wenn man zum Beispiel vor Menschen vorträgt, die noch nicht verheiratet sind, wird es nicht anziehend sein, Scheidungsverse zu interpretieren.

Es ist anziehender, wenn die Vortragszeit für eine Koraninterpretation kurz ist.

Wir müssen versuchen, die Prinzipien und Grundlagen des Korans zu erfassen, dies hat eine stärkere Wirkung auf uns. Beispielsweise hat Prophet Ibrahim (a.) seine Familie zur Vernunft aufgerufen und gefragt, warum sie Götzen anbeten: „Als er zu seinem Onkel und seinem Volke sagte: ‚Was sind das für Bildwerke, denen ihr so ergeben seid?‘“ (21:52)

Oberflächlich gesehen scheint es so, als würde jemand einem Familienmitglied eine ganz normale Frage stellen, aber aus diesen einfachen Worten lassen sich Prinzipien erkennen, die an jedem Ort und zu jeder Zeit zählen. Zum Beispiel:

Beim Gebieten des Guten und Verwehren des Schlechten sowie der Rechtleitung zählt nicht das Alter. – Ibrahim (a.) leitete in jungen Jahren die Älteren seiner Familie recht.

Beim Gebieten des Guten und Verwehren des Schlechten sind lange Planungen und Statistiken keine Voraussetzungen. – Ibrahim (a.) hat im Kleinen mit seiner Arbeit und Einladung zum Gutem begonnen.

Beim Gebieten des Guten und Verwehren des Schlechten gilt es, zuerst bei den eigenen Verwandten anzufangen. – Ibrahim (a.) hat bei seiner eigenen Familie begonnen, genauso wie der Koran sagt: „Und warne deine nächsten Verwandten.“ (26:214)

Beim Gebieten des Guten und Verwehren des Schlechten müssen Prioritäten gesetzt werden. Erst danach muss man sich um zweitrangige Angelegenheiten kümmern. – Ibrahim (a.) hat sich zuerst der Angelegenheit der Götzendienerei gewidmet. Der Koran sagt: „Götzendienst ist wahrlich ein gewaltiges Unrecht.“ (31:13)

Oberflächlich betrachtet kann man erkennen, dass dieser Vers private und familiäre Angelegenheiten thematisiert, aber mit einer genaueren Betrachtung lassen sich universelle Prinzipien daraus ableiten.

Wenn die Koranverse in kurzer Zeit interpretiert und gleichzeitig mit einer schönen Stimme rezitiert oder mit einer schönen Schrift präsentiert werden, werden sie anziehender für die Zuhörer sein.

Die Koraninterpretation für die Allgemeinheit muss praktisch und lebensnah sein und die Probleme der Menschen lösen können und ihnen Antworten auf ihre Fragen liefern. Wir müssen uns davon distanzieren, bei der Interpretation viele Meinungen und Betrachtungen zu erwähnen. Als Beispiel nehmen wir eine stillende Mutter. Sie nimmt zwar verschiedene Nahrungsmittel zu sich, aber ihrem Säugling liefert sie aus allem nur das Beste (Muttermilch).
Die Exegese muss praktisch sein und nicht nur theoretisch. Sie muss nutzbar sein und nicht nur einmalig aufgenommen werden. Das heißt, wir müssen die Verse so interpretieren, dass unsere Zuhörer diese weitergeben können, dass die einfachen Menschen sie verstehen und die Gebildeteren sie akzeptieren. Manchmal ist es so, dass die einfachen Menschen die Koraninterpretationen verstehen, aber die Gebildeteren sich über sie beschweren. Manchmal akzeptieren die Gebildeteren diese, aber die einfachen Menschen verstehen sie nicht und wenn sie diese verstehen, sind die Interpretationen so umfangreich, dass sie die Lehren, die sie daraus in der Moschee ziehen, nicht außerhalb der Moschee ihren Nächsten weitergeben können.

Wie dem auch sei, muss für die Koraninterpretation eine Bewegung entstehen, genauso, wie für Koranrezitationen und Rezitationswettbewerbe starke Bewegungen in Gange gesetzt wurden (Gott sei Dank). Und wenn wir nach der Aufforderung des Propheten (s.) handeln möchten, der sagte: „Der Koran und meine Ahlulbayt werden sich nie voneinander trennen“, dann muss die Anzahl der Koranveranstaltungen genauso hoch sein wie die Trauerveranstaltungen für Imam Hussein (a.). Aber wenn es hunderte Trauerveranstaltungen und Geburtstagsfeiern für die Ahlulbayt gibt (die es auch geben muss), aber keine Koranveranstaltungen und -interpretationen stattfinden, dann müssen wir ernsthaft zu uns kommen und uns fragen, weshalb diese Trennung vorhanden ist, obwohl der Prophet gesagt hat, dass der Koran und die Ahlulbayt zusammengehören!

Und wenn wir in den Überlieferungen lesen, dass der Imam der Zeit bei seiner Wiederkehr befehlen wird, dass überall Zelte für das Gebet und die Rezitation des Korans und das Nachdenken über den Koran aufgeschlagen werden, so kann man natürlich anstatt von Zelten Häuser bauen lassen, jedoch soll mit dem überlieferten Aufschlagen von Zelten die Einfachheit des Abhaltens von Koranveranstaltungen symbolisiert werden. Heutzutage sehen wir zwar Gebäude, die für das Gebet und für den Koran aufgebaut wurden, aber ist das Lehren, Nachdenken und das Handeln danach sehr mager.

O unser Herr, wenn wir bis jetzt den Koran nur dafür genutzt haben, ihn in der Nacht der Bestimmung an den Kopf zu halten, Istichara zu machen, darauf zu schwören, ihn für das neue Zuhause zu benutzen (auch wenn diese segensreiche Taten sind), dann möchten wir den Koran ab jetzt für all unsere Lebensbereiche nutzen.

Wassalam

Hudschat-ul-Islam wal Muslimin
Mohsen Qaraati

 

https://offenkundiges.de/scheich-qaraati-offener-brief-uber-die-bedeutung-des-korans-im-monat-ramadan/

captcha