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Der politische Islam als Vorwand und Kampfbegriff

20:22 - January 27, 2021
Nachrichten-ID: 3003754
Was ist der „politische Islam“ und warum wird dieser Ausdruck aktuell immer berühmter? Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Angriff der Politiker des Westens auf die Widerstandskultur des Islams, versteckt hinter diesem umstrittenen Ausdruck.

Ein Beitrag von Kianusch Alizadeh

 

Seit einigen Jahren ist der Begriff „politischer Islam“ ein Schlagwort, das sowohl von Politikern als auch von Medien im deutschen Sprachraum immer häufiger verwendet wird. Dabei fällt auf, dass dieser Begriff Muslime provozieren soll. Er dient meist dazu, Muslime und islamische Ideologien in zwei Kategorien zu unterteilen. Nämlich in jene, die sich dem Staat klar unterordnen und ihre religiöse Denkweise mit der demokratisch-liberalen Grundordnung vereinbaren, und in jene, die eine politische und oder religiöse Agenda über das Gesetz und der Staatsgewalt hinaus verfolgen. So oder so, Muslime werden gezwungen sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden.


Welche Definition?

Was soll dieser Begriff aber eigentlich bedeuten? Warum sagen Politiker, „Islamexperten“ oder Medien nicht einfach „Islamisten“, wenn sie in vielen Fällen doch offensichtlich dieses ebenfalls fragwürdige Wort meinen? Wer den Begriff „politischer Islam“ recherchiert, erkennt, dass es eigentlich keine einheitliche Definition gibt. Es handelt sich offenbar vielmehr um einen schwammigen Begriff, den man immer dann benutzt und dabei die Definition nach Belieben ändert, wenn man mehr Menschen als nur die gewöhnlichen „Islamisten“ ins Fadenkreuz nehmen möchte.

Das ist recht gefährlich, da solch ein Begriff offensichtlich missbraucht werden kann, um Muslime allgemein unter Generalverdacht zu stellen. Um mir verschiedene Definition genauer anzusehen, habe ich mit Wikipedia angefangen, da diese Enzyklopädie weltweit die mit Abstand größte Reichweite hat.

Dort steht interessanterweise an erster Stelle, dass der Begriff sehr unterschiedlich verwendet wird. Weiter heißt es: „Vorwiegend negativ und eher islamkritisch konnotiert, wird er mit verschiedenen Richtungen des Islamismus identifiziert, aber auch in Zusammenhang mit mangelnder Integrationsbereitschaft von Migranten und daraus entstehenden Diskussionen über Sozialpolitik und Rechtsnormen verwendet. Islamische Glaubensgemeinschaften sehen allein schon das Wort als Ausdruck von Muslimfeindlichkeit und Islamophobie, während es von vielen Politikern und Wissenschaftlern als Sammelbegriff von Positionen verstanden wird, mit denen der Islam auf die westliche Wertegemeinschaft Einfluss nehmen kann.“[1]

Hier wird zumindest versucht, den Begriff etwas einzugrenzen, aber eine genaue Erklärung, was man unter diesem Terminus nun verstehen soll, lässt sich nicht feststellen. Stattdessen findet man unter dem Wikipedia-Titel „Definition“ Zitate von drei Autoren, die den Begriff sehr unterschiedlich benutzen. Während John O. Voll den Begriff mit einer Grundlage für die Bildung politischer Identität und politischen Handelns gleichsetzt, liest man bei Susanne Schröter von einer Herrschaftsordnung, die der Demokratie und Freiheit nach westlichem Vorbild entschieden die Stirn bietet und diese umgestalten möchte. Allein diese zwei Definitionen lassen sehr viel offen und gehen weit auseinander. Das wirft noch mehr Fragen auf, doch die wichtigste lautet: Warum gibt es keine zumindest einigermaßen einheitliche Definition dieses Begriffs?


Die Deutungshoheit

Dazu muss man erst einmal schauen, wer diesen Begriff etabliert hat, sodass dieser ein fester Bestandteil der öffentlichen Debatte geworden ist und bleibt. Das spielt eine wesentliche Rolle aufgrund der Deutungshoheit (alleinige Befugnis, etwas zu deuten, und alleiniges Recht zu interpretieren, wie sich etwas verhält). Während bei den meisten alltäglichen Begriffen das Wörterbuch diese innehat, sieht es bei neueren, politisch brisanten Begriffen schon ganz anders aus. Hier können jene die einen Begriff erstmals in das Rampenlicht bringen, dessen Bedeutung und Interpretation geschickt zum eigenen Interesse ändern und nutzen und niemand könnte dem widersprechen, da eigentlich kaum einer genau weiß, was der Begriff nun bedeutet.

Wenn also der österreichische Bundeskanzler ein härteres Vorgehen gegen den politischen Islam fordert (was er regelmäßig tut)[2], wüsste ich nicht, ob er damit die stärkere Bekämpfung von radikalen Islamisten oder allgemein Muslime meint, die ihre Religion zur Bildung einer politischen Identität nutzen. In diesem Fall könnte beides zumindest indirekt stimmen. Somit spielt es eine zweifellos entscheidende Rolle, wer die Deutungshoheit über diesen Terminus innehat, denn die Muslime haben sie offensichtlich nicht. Das liegt daran, dass der Begriff überwiegend von Politikern etabliert und genutzt wurde und diese Tatsache ihnen zumindest kurzfristig automatisch die Deutungshoheit überträgt.


Österreich als Negativbeispiel

Als ein Beispiel für den offenkundigen Missbrauch dieses Begriffs seitens der Politik führe ich ein aktuelles Beispiel aus Österreich an:
Im Jahr 2015 wurde in Österreich die sogenannte „Dokumentationsstelle politischer Islam“ gegründet.[3] Nach Angaben der Leiterin, Susanne Raab (Integrationsministerin Österreichs) ist diese Dokumentationsstelle die erste, die sich unabhängig und wissenschaftlich mit der gefährlichen Ideologie des „politischen Islams“ auseinandersetzt und Einblicke in bisher verborgene Netzwerke liefern soll.[4] Weiter sagt sie dem „politischen Islam“ auf mehreren Ebenen den Kampf an und verbindet den Begriff mit der Bildung von Parallelgesellschaften und ausländischem Einfluss unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit. Wer hier nach einer Definition seitens Susanne Raab sucht, wird enttäuscht. Man soll nur wissen, dass der „politische Islam“ eine äußerst gefährliche Ideologie sei. Viele Muslime in Österreich sehen in dieser Dokustelle eher einen Überwachungsapparat der Kurz-Regierung.[5] Wie kann man es ihnen übelnehmen?


Fazit

Diese Aufmachung der Politik über den sogenannten politischen Islam impliziert meiner Meinung nach einen Versuch, die Muslime besser unter Kontrolle zu bekommen. Unter dem Vorwand eines äußerst schwammigen Begriffs, mit dem jongliert wird, möchte man Muslime wie eine potenzielle Gefahr für die Gesellschaft darstellen, besser überwachen und in ihr Handeln eingreifen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Kopftuchverbot in Österreich, was von Susanne Raab 2020 wieder mit dem Schlagwort „politischer Islam“ befeuert wurde und man das Verbot sogar auszuweiten versuchte.[6] Dieses Verbot wurde allerdings im Dezember vom Verfassungsgerichtshof rückgängig gemacht und damit sogar jeder zukünftige Versuch in dieser Richtung im Keim erstickt.

Jedenfalls sollten wir Muslime diesem Kampfbegriff keine Bühne bieten und ihn bei jeder Gelegenheit in Frage stellen. Wenn die Verfechter dieses Begriffs ihn offensichtlich dazu missbrauchen, den Islam (keineswegs nur die Extremisten) einzuschränken und zu bekämpfen, müssen wir als europäische Muslime wachsam sein, denn dieses Phänomen lässt sich natürlich auch in Deutschland und weiteren europäischen Ländern beobachten.

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Politischer_Islam ↩︎

https://kurier.at/politik/inland/kanzler-erklaert-auf-cnn-wie-er-den-politischen-islam-verbieten-moechte/401125074 ↩︎

https://de.wikipedia.org/wiki/Dokumentationsstelle_Politischer_Islam ↩︎

https://www.bundeskanzleramt.gv.at/bundeskanzleramt/nachrichten-der-bundesregierung/2020/integrationsministerin-raab-dokumentationsstelle-politischer-islam-nimmt-arbeit-auf.html ↩︎

https://religion.orf.at/stories/3201806/ ↩︎

https://www.katholisch.at/aktuelles/128454/raab-kopftuchverbot-und-islam-dokumentationsstelle-kommen-rasch ↩︎

 

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